Im Unglück ermitteln – wozu eigentlich?

Vor einer Woche haben wir das Szenario am MAZ geübt, nun wurde es Wirklichkeit: In Riga ist ein Einkaufszentrum zusammengestürzt. Hautnah als Berichterstatter dabei: Journalisten. Wie bereits im Kurs stelle ich mir hier wieder vor allem eine Frage: Wozu eigentlich?

Doch beginnen wir von vorn:

«Im Unglück ermitteln – JournalistInnen und Opfer» lautete der Kurstitel. Unter der Leitung von Medienpädagogin Claudia Fischer, freie Journalistin beim NDR und spezialisiert auf das Themenfeld Journalismus und Trauma, gingen wir der Frage nach, wie sich Journalisten als Berichterstatter in Extremsituationen verhalten sollen.

Kern- und Höhepunkt des Kurses war die Übung zu einem fiktiven Szenario: Ein Einkaufszentrum in unserer Nähe war zusammengestürzt. In vier verschiedenen Zimmern am MAZ warteten professionelle Schauspieler, die eine überlebende Kundin, eine Sanitäterin, einen Vater eines vermissten Sohnes und die Managerin des Einkaufszentrum mimten. Unsere Aufgabe: Mit den Beteiligten in Kontakt treten und sie zu einer Aussage vor der Kamera bewegen. Die Szenen wurden auf Kamera aufgezeichnet und unser Verhalten anschliessend im Plenum ausgewertet.

Dass nun kurz nach diesem Kurs eben dieses Szenario Realität wurde – der Einsturz eines Einkaufszentrums in Riga –, lässt mich erneut über den Kursinhalt nachdenken.

So viel zur Ausgangslage.

Wieso ich mich überhaupt für den Kurs angemeldet habe, weiss ich nicht mehr. Wahrscheinlich war der Zeitpunkt des Kurses passend, und er wurde mir von meinen MAZ-Kollegen mehrfach empfohlen. Einen eigenen Bezug zum Thema aber hatte ich nicht, aus zweierlei Gründen.

Erstens war ich als Journalistin noch nie mit einer Extremsituation konfrontiert. Nicht, weil in meiner Arbeitsumgebung nie was Schlimmes passieren würde, sondern weil wir in der Redaktion keinen Unglücksjournalismus betreiben. Wenn ein Unfall oder ein Verbrechen geschieht, gehen wir nicht mit Kamera und Notizblock vor Ort, sondern verlassen uns auf die Medienmitteilung der Polizei. Die folgt meist erst ein oder zwei Tage später, aber was solls? Gibt Wichtigeres.

Wo wir gleich beim zweiten Grund wären, wieso mich das Thema «Im Unglück ermitteln» nicht betrifft: Selbst wenn ich den Auftrag erhalten würde, über einen Unfall, ein Verbrechen, einen Einsturz eines Einkaufszentrums oder ähnliches vor Ort hautnah zu berichten, ich würde mich weigern. Denn: Ich will das nicht. Ich will nicht mit der Kamera vor irgendwelchen Trümmern stehen und Blutspuren oder Opfer vor die Linse holen. Ich will nicht mit dem Notizblock oder dem Mikrofon vor Personen stehen, die gerade Opfer oder Zeugen eines Unglücks waren, und ihnen Aussagen entlocken.

Ich will das nicht. Nicht nur, um mich selber zu schützen. Sondern weil ich den Nutzen einer Unglücksberichterstattung sehr infrage stelle. Was bringen Bilder von Unglücksfällen dem Leser bzw. Zuschauer? Ich behaupte: wenig. Helfen Aussagen von traumatisierten Personen dem Publikum, sich eine Meinung zu bilden? Ich behaupte: nein.

Am Beispiel des eingestürzten Einkaufszentrums in Riga: Was bringen Bilder von Leichensäcken, verletzten Personen auf der Bahre, trauernden Angehörigen oder Aussagen von Leuten, die ihre Angehörigen unter den Trümmern wissen – wie etwa hier, hier oder hier?

Wenn mit solchen Bildern oder Aussagen überhaupt ein Bedürfnis des Lesers befriedigt wird, dann höchstens sein Hang zum Voyeurismus. Und dafür mich selber grauenhaften Bildern aussetzen, Opfer oder Zeugen mit Notizblock oder Mikrofon die Würde nehmen – das ist es mir nicht wert. Wenn ich mit meiner Berichterstattung einzig den Voyeurismus der Leser befriedigen soll, kann ich gut und gerne auf meinen Beruf verzichten.

So sehen das leider längst nicht alle meine Berufskolleginnen und -kollegen, wie der Kurs am MAZ gezeigt hat. Neben mir und zwei, drei weiteren Lokaljournalisten waren die meisten der Kursteilnehmenden  schon mindestens einmal in ihrer Arbeit als Unglücksberichterstatter unterwegs: als Häuser abbrannten, Scharfschützen ein Haus umstellten oder Vergewaltigungen publik wurden. Sie mussten dabei O-Töne von Betroffenen vor Ort einholen, bis tief in die Nacht die Kamera auf das umstellte Haus halten und sogar Vergewaltigungsopfer anrufen. Eine Kursteilnehmerin vom vergangenen Jahr – so erzählte uns die Dozentin – hielt sogar ein geköpftes Opfer eines Autounfalls auf ihrer Kamera fest.

Wieso tun sie das? Die naheliegendste Antwort: Weil sie müssen. Weil es in den Redaktionen, in denen sie angestellt sind, gang und gäbe ist, über Unfälle, Hausbrände und Vergewaltigungsopfer zu berichten. Und wie die Dozentin bestätigte: Oft werden gerade Praktikanten an solche Unglücksorte geschickt. Das ist in dreifacher Hinsicht verheerend. Erstens können sie unmöglich wissen, wie sie die Bilder und Töne von solchen Vorfällen verarbeiten können. Zweitens werden sie gewissermassen auf Unglücksberichterstattung hin sozialisiert, und zwar weil sie – drittens – scheinbar keine Wahl haben, Nein zu sagen. Schliesslich sind sie neu in der Branche, heilfroh über das Privileg, eine Praktikumsstelle ergattert zu haben, und wissen nur zu gut, dass da draussen viele andere nur zu gern ihren Platz einnehmen würden. Was fiele ihnen denn ein, da einen Auftrag abzulehnen? Das klingt zwar banal und vermeintlich einfach, ist aber leider Realität.

Diese Mischung – die Sozialisierung auf Unglück bei gleichzeitiger Angst, Nein zu sagen – führt dann meist dazu, dass man sein Tun irgendwann nicht mehr hinterfragt. So führte auch mein Einwand am Kurs, ob die Berichterstattung an Unglücksorten überhaupt nötig sei, lediglich zu etwas hilflos wirkendem Schulterzucken. Klar könne man sich das fragen, hiess es etwa, aber es sei nun mal so, dass auch das zu unserem Job gehöre. Das Im-Unglück-ermitteln-Müssen als unhinterfragte Grundlage quasi. Das einzige, was es zu klären gab: Wie man im Unglück ermitteln und dabei möglichst wenig Schaden anrichten oder mitnehmen kann.

Natürlich wusste ich, dass der Kurs sich thematisch nicht nur bei der Grundsatzfrage aufhalten konnte, ob im Unglück ermitteln überhaupt nötig ist. Zumal die Kursziele bereits bei der Ausschreibung klar waren: Es ging darum, das Wie der Unglücksberichterstattung zu klären. Wären wir alle am ersten Kurstag zum Schluss gekommen, dass im Unglück ermitteln eigentlich unnötig ist, wäre der Kurs dahin gewesen. Und ich bin natürlich auch der Meinung, dass wenn Journalisten schon im Unglück ermitteln müssen – oder meinen, es tun zu müssen – es auch wichtig ist, dass sie das mit dem richtigen Know-how tun.

Insofern hat der Kurs sicherlich seine Daseinsberechtigung, und es war auch für mich sehr lehrreich. Zumal es nicht ausschliesslich um den Umgang mit unmittelbaren und akuten Unglücken ging, sondern auch darum, wie man mit Traumatisierten über Erlebtes spricht, das schon eine Weile zurück liegt. In solchen Fällen kann eine Berichterstattung nämlich durchaus angebracht sein, wenn es beispielsweise darum geht, aufzuzeigen, wie das Leben nach einem Unglück weiter geht. Hierbei geht es dann schliesslich auch nicht mehr alleine um den Voyeurismus.

Und das ist für mich der Knackpunkt bei der Frage: Wozu eigentlich im Unglück ermitteln? Ich behaupte nicht, dass Unglücksberichterstattung in jedem Fall unnötig ist. Im Kriegsfall beispielsweise erfüllen Reporter vor Ort eine wichtige Aufgabe als Beobachter und Berichterstatter. Sie sorgen dafür, dass die Welt mitkriegt, was der Krieg für die Leute vor Ort bedeutet. Und erfüllen damit indirekt eine wichtige Kontrollfunktion.

Umso wertvoller war auch unser Gast am Kurs: Gregor Sonderegger, der als Korrespondent des Schweizer Fernsehens in Russland über den Sturm der Schule von Beslan berichtete. Ihm ging es dabei nicht darum – und das glaube ich ihm –, den Voyeurismus der Zuschauer zuhause zu befriedigen. Vielmehr sorgte er als Beobachter eines ungeheuerlichen Versagens der Mächtigen dafür, den im Stich gelassenen Opfern eine Stimme zu geben. Dass er dabei sich selber in Gefahr brachte und sich schrecklichen Bildern aussetzte, ist der Preis, den er bis heute bezahlen muss.

Eindrücklich war denn auch Gregor Sondereggers Appell an uns Nachwuchsunglücksberichterstatter: Akzeptiert eure Grenzen! Nicht jeder halte gleich viel Unglück aus, und bevor man selber daran zugrunde gehen droht, sollte man einen Schlussstrich ziehen. So hatte Gregor Sonderegger bei seinem Einsatz in Beslan der Redaktion in der Schweiz auch klar mitgeteilt, dass er abgelöst werden muss. Er wusste, dass seine Grenze bald erreicht sein würde und verzichtete bewusst auf den Gang in die Ruine des Schulhauses, in dem ihn Bilder von Dutzenden verkohlten Kinderleichen begegnet wären.

Akzeptiert eure Grenzen! Getraut euch, auch mal Nein zu sagen! Man könnte nun einwenden, dass dies ein Luxus ist, den man sich bei grossen Medienbetrieben leisten kann. Das Schweizer Fernsehen kann auf einen ganzen Stamm an Korrespondenten zurückgreifen, die es in solche Krisengebiete schicken kann. Insofern konnte es sich Gregor Sonderegger leisten zu sagen: Bis dahin und nicht weiter. Ohne zu befürchten, gleich seinen Job zu verlieren. Ein Luxus, den sich Praktikanten von kleinen Verlagen vielleicht nicht leisten können. Oder sie meinen zumindest, es sich nicht leisten zu können.

Trotzdem sollten sie es versuchen. Gerade bei Unglücksfällen, über die hautnah zu berichten alleine dem Voyeurismus dient: bei Autounfälle, Hausbränden, einstürzende Einkaufszentren, Vergewaltigungen. Solange gerade Nachwuchsjournalisten ohne Wenn und Aber mit Kamera, Mikrofon und Notizblock zu solchen Unglücksfällen schreiten, bleibt die Diskussion über Sinn und Unsinn solcher Berichterstattung aus. Erst bei einem Nein muss der Auftraggeber begründen, wieso es nun wichtig ist, Bilder und Aussagen von Unglücksfällen im Blatt oder in der Sendung zu haben. Und muss bei genauer Überlegung darauf kommen, dass der Nutzen in keinem Verhältnis zum Aufwand steht. Nur um den Voyeurismus unseres Publikums zu befriedigen sollten wir Journalisten uns keinen Finger krumm machen müssen. So viel Selbstachtung sei uns gegönnt.

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19 Antworten zu Im Unglück ermitteln – wozu eigentlich?

  1. dirk schreibt:

    du bist nicht die einzige die sich darüber gedanken macht:

    Klicke, um auf Dobelli_Vergessen_Sie_die_News.pdf zuzugreifen

  2. user unknown schreibt:

    Als Zuschauer, der diesen Formaten gezielt aus dem Wege geht (Brisant, Hallo Deutschland) meine ich zu wissen, was, außer Voyeurismus, der treibende Faktor ist: Die emotionale Wirkung. Dass Leute dass an sich ran lassen und empathisch reagieren schafft eine emotionale Bindung an die Sendung. Allerdings verpufft das Mitgefühl im Nichts, denn man hat ja nichts mit den wirklichen Betroffenen zu tun.
    Der Grusel der echten Tragödien wird aber wohl, so stark er verlangt wird, so wenig verstanden. Weil es Nachrichten sind fühlt man sich legitimiert. Aber hilft es mir als Konsument im nächsten Supermarkt ein Auge auf die Dachkonstruktion zu haben? Erkenne ich irgendwie den Zustand von Bäumen am Waldweg?

    • eigenwach schreibt:

      Das mit der emotionalen Bindung hat wohl was. Und: Die Leute wollen – so sagt man – eben solche Bilder sehen. Aber das Mitgefühl ist dabei, wie Du schreibst, nicht nachhaltig und die geschaffenen Emotionen damit nur Mittel zum Zweck. Und das ist es, was ich anprangere.

    • Mermal schreibt:

      Der Zuschauer erwartet diese emotionale Wirkung aber auch. Er möchte sagen können „Ach, die armen Opfer“ und sich damit zum Einen gut fühlen, da er selber nicht Opfer ist und zum Anderen, weil er jetzt Empathie gezeigt hat und vielleicht noch 10 Euro an irgendeine Spendenorganisation schickt. Indem man Opfer sieht, fühlt man sich als Nicht-Opfer besser.
      In gesteigerter Form sind das dann Kommentare wie ich sie schon zu einem sexuellen Missbrauch eines Kindes lesen konnte: „Das arme Kind! Es wird nie wieder glücklich sein und lieben können.“ Da wird das Kind Opfer auf Lebenszeit und man kann sich selber immer wieder erhöht fühlen und darüber stehend, da man nicht Opfer ist und außerdem noch mitfühlend den Kopf tätschelt. Und wenn ein Opfer dann mal wagt, sich nicht opfermäßig zu verhalten, dann wird gleich wild spekuliert oder getuschelt (siehe Kampusch).
      Das Problem ist also, dass der Zuschauer dies verlangt ohne zu erkennen, dass es letztendlich Fast-Food-Nachrichten sind, die ihn gegen echte Tragödien abstumpfen und blind machen für Momente, wenn man mal echt helfen kann.

  3. Beobachter schreibt:

    Im Wesentlichen stimmt das schon. Ich würde aber anmerken: Dass Menschen sich für Unglücksfälle interessieren, hat durchaus gute Gründe – früher, als es noch keine Medien gab, war es für Menschen doch ein wichtiges Warnsignal, zu sehen, was anderen passiert ist, um es selbst zu vermeiden. Wer da beim Jagdunfall zum Beispiel weggeschaut hat, hat nicht lernen können! – Und das kann heute noch sinnvoll sein: Der erste Weltkrieg wurde maßgeblich ausgelöst und hat Jubel entfacht, weil den Leuten ein halbes Jahrhundert nach dem letzten großen Krieg (der heroisiert wurde) und ohne mediales Wissen, was Krieg wirklich bedeutet, eben Infos gefehlt haben, welche Auswirkungen das wirklich auf sie hat! – Bei aller Medienkritik: Gute, einfühlsame Kriegsberichterstattung zum Beispiel erreicht sicherlich mehr, als Ekelbilder auf Zigarettenschachteln zu drucken (was versucht, einen ähnlichen Effekt zu nutzen, aber viel weniger nutzt als zum Beispiel eine gute Reportage über einen Menschen, der am Krebs stirbt). Der letzte Krieg hier bei uns ist auch schon wieder weit über ein halbes Jahrhundert her – gut für uns, wenn die Menschen immer wieder sehen, was Krieg, der leider heute anderswo wütet, bedeutet. Und das leisten die Medien.

    • eigenwach schreibt:

      Da stimme ich Dir zu: Unglücksberichterstattung im Falle von Kriegen, oder wenn es darum geht, Leute vor einer Gefahr zu warnen, ist durchaus berechtigt. Gerade Kriegsreporter leisten hier einen wertvollen Beitrag, keine Frage! Was allerdings «banalere» Unglück angeht wie Autounfälle, Hausbrände oder einstürzende Einkaufszentrem, so kann auf die Berichterstattung vor Ort und hautnah (darum gehts mir!) meist gut und gerne verzichtet werden. Klar sollen solche Fälle als Meldungen auch in den Medien vorkommen; ob Blut oder Tränen in diesen Fällen wesentlich zur Meinungsbildung der Leser beitragen bezweifle ich jedoch.

  4. Alexander schreibt:

    Den Opfern von Unglücksfällen, Amokläufe(r)n, Naturkatastrophen usw. eine Stimme zu geben, ist für Dich wirklich nicht mehr als Voyeurismusbefriedigung?

    • eigenwach schreibt:

      Nein. Ich schreibe ja, dass Unglücksberichterstattung nicht per se verwerflich ist. Es kann in einzelnen Fällen (wie z.B. im Krieg) durchaus dienlich sein. Bei Autounfällen, Hausbränden und Co. stellt sich mir aber die Frage, inwiefern die Berichterstattung hautnah (und nur darum gehts mir!) der Aufgabe des Journalismus dient, nämlich: Den Leser ermöglichen, sich eine Meinung zu bilden. Vielfach wird einfach nur der Voyeurismus bedient. Oder bist Du da anderer Meinung?

      • Alexander schreibt:

        – Ein angetrunkener Autofahrer baut auf der nächtlichen Heimfahrt vom Club einen Unfall bei dem seine Beifahrer sterben. Womit erreicht man eher, dass andere Autofahrer über die Gefahren von Alkoholgenuß vor dem Fahren nachdenken? Mit der Meldung „Ein angetrunkener Autofahrer hat einen Unfall mit drei Toten gebaut. Punkt.“ oder mit Interviews der trauernden Angehörigen der Toten?
        – Eine hautnahe Berichterstattung macht das Geschehen(e) und den Schrecken darüber greifbarer. Dass hautnah über das Loveparade-Unglück berichtet wurde, hat sicher anderes bewirkt als hätte sich die ganze Berichterstattung darüber in der Meldung erschöpft „In Duisburg gab es bei einer Veranstaltung Tote und Verletzte“.
        – Die Pulitzer-Preis gekrönten Bilder von Carol Guzy, Nikki Kahn und Ricky Carioti gehören zu der von Dir kritisierten hautnahen Berichterstattung. Meinst du nicht, sie bewegten und bewirkten mehr als das Verlesen der Meldung „In Haiti gab’s ein Erdbeben mit vielen Toten“.

      • eigenwach schreibt:

        Zum Autounfall: Ich gebe Dir recht, dass eine Meldung wohl nicht dieselbe präventive Wirkung hat als beispielsweise ein hintergründiges Interview mit Hinterbliebenen der Opfer. Die Frage ist aber, wann und wie ein solches Interview stattfinden soll. Gleich vor Ort, wenn die Leichen aus dem Autowrack geborgen werden? Am nächsten Tag, wenn die erste Schreckensnacht überstanden ist? Wäre das nicht extrem geschmack- und pietätlos den Angehörigen gegenüber? Ich finde schon. Deshalb mein Vorschlag im Falle eines Autounfalls: Zuerst die nüchterne Polizeimeldung nehmen, dann – wenn’s der Meinungsbildung der Leser dient – eine oder zwei Wochen später bei den Angehörigen nachfragen, ob sie bereit sind, darüber zu sprechen. Die Tragödien sind meist schon alleine schlimm genug; da braucht es nicht noch Journalisten, die in der noch blutenden Wunde rumstochern. Meine Meinung. Was die Berichterstattung zum Loveparade-Unglück angeht, war es so, dass die Reporter sowieso schon vor Ort waren und dem Unglück teilweise gar nicht ausweichen konnten. Insofern war die hautnahe Berichterstattung hier nur teilweise gewollt. Ich sage nicht, dass Journalisten wegschauen sollen, wenn Schlimmes passiert. Sie sollen sich einfach nicht blindlings drauflos stürzen, wenn’s irgendwo knallt oder blutet. Das ist geschmack- und pietätlos. Wie ein paar der preisgekrönten Bilder, die Du ansprichst. Man kann sich vorstellen, wie schlimm die Lage in Haiti war/ist, und dies mit einigen Bildern ausdrücken. Bilder von weinenden Leuten vor einem Sarg oder Nahaufnahmen einer weinenden Mutter sind da – meiner Meinung nach – nicht nötig. Nicht für das, was Medien eigentlich tun sollten; dem Publikum ermöglichen, sich eine Meinung zu bilden.

      • Alexander schreibt:

        „Die Frage ist aber, wann und wie ein solches Interview stattfinden soll“ – Im Artikel war die Frage nicht WANN in dieser Form berichtet werden soll sondern da meintest du noch, dass überhaupt nicht in dieser Form berichtet werden soll.

        „Man kann sich vorstellen, wie schlimm die Lage in Haiti war/ist“ – Ich kann das nicht. Wie auch? Ich war noch nie auf Haiti und habe noch nie ein Erdbeben erlebt.

        Ich halte Deinen Ansatz für grundsätzlich falsch. Dem Publikum zu ermöglichen, sich eine Meinung zu bilden, ist eben nur EINE der Aufgaben von Medien. Meiner Meinung nach ist eben nicht alles, was dieser Aufgabe nicht dient, verwerflich oder überflüssig.

  5. Go schreibt:

    Zeitungen schreiben oft darueber, wie Rettungsarbeiten durch Neugierige behindert werden. Diese Texte werden von den Verfassern gern mit sueffisanten oder moralisierenden Untertoenen gefaerbt. Doch wenn dann etwas geschieht, stehen sie selbst in der ersten Reihe. In den meisten Faellen ist die Berichterstattung nichts anderes, als die Befriedigung des Voyerismus derjenigen, die nicht zum Katastrophenort kommen konnten.
    Ich habe oefter an Verlage geschrieben und diesen Unsinn der – meist nichtssagenden – Fotos kritisiert. Es ist nie eine Antwort gekommen, Kommentare wurden nicht veroeffentlicht. Und ich spreche nicht vom Boulevard.
    Es ist auch so, dass die Fotografen von Katastrophen oft selbst ausgesprochene Voyere sind und mit diesen Bildern ihre eigene „Sucht“ befriedigen. Zumindest in kleineren Bereichen, also auf regionaler Ebene, ist das meine Erfahrung. (Ein Vetter ist so ein Fotograf, scheusslich!)
    Selbst bei Kriegsfotografie und Kriegsberichterstattung bin ich sehr skeptisch. Sicher wird dort das
    Elend gezeigt und den einzelnen, unschuldig Betroffenen eine Stimme gegegeben. Und es muss auch berichtet werden. Doch auf das „Wie“ kommt es an. Denn mal ganz ehrlich, haben die Berichte, Fotos und Filme von den beiden Weltkriegen, von Hiroshima, Vietnam oder andern Kriegsereignissen irgendeinen Krieg verhindert? Wie lange ist Berta von Suttners Aufruf „Die Waffen nieder!“ Geschichte? Beinahe 125 Jahre. Da war der 1. Weltkrieg noch 25 Jahre entfernt. Seither ist erst so richtig aufgeruestet worden und die Kriege sind grausamer denn je.
    Die Redaktionen behaupten, die Menschen wollen solche Bilder sehen. Das mag stimmen. Die Frage ist, ob man jeden Wunsch erfuellen muss. Und wenn ja, wie man dann damit umgeht.

    • Alexander schreibt:

      „Denn mal ganz ehrlich, haben die Berichte, Fotos und Filme von den beiden Weltkriegen, von Hiroshima, Vietnam oder andern Kriegsereignissen irgendeinen Krieg verhindert?“ – Ja, da bin ich sicher. Nick Uts Foto von Phan Thi Kim Phuc hat vermutlich mehr zur Beendigung des Vietnam-Krieges beigetragen als es jede noch so ausführlich Anneinanderreihung von Fakten hätte leisten können.

      • Go schreibt:

        Das mag stimmen und es ist gut, sich daran zu erinnern. Moeglicherweise haben diese Fotos zur Beendigung des Krieges in Vietnam beigetragen. Doch neue Kriege haben sie eben nicht verhindert. Auch nicht solche, die die USA, wider besseren Wissens und trotz der Erfahrungen gerade in Vietnam, angezettelt haben. Siehe Iraq. Von Aghanistan will ich gar nicht erst sprechen.
        Und auch die doch sehr dramatischen Berichte, Filme und Fotos von Guantanamo haben das Lager bisher nicht geschlossen, die Folter nicht beendet. Und das trotz des Wahlversprechens Obamas.
        Allerdings gestehe ich, dass hierueber gar nicht genug berichtet werden kann. Doch ist die Weltoeffentlichkeit und sind die Medien laengst darueber hinweggegangen. Neue Sensationen muessen eben her.

      • Alexander schreibt:

        @Go: „Moeglicherweise haben diese Fotos zur Beendigung des Krieges in Vietnam beigetragen.“ – und damit hat diese Form der Berichterstattung bereits ihre Berechtigung.

    • eigenwach schreibt:

      Herzlichen Dank für Deinen Kommentar, den ich gerne so stehen lassen möchte. Weil er – vor allem in den letzten vier Sätzen – das ausdrückt, was mir auf dem Herzen liegt. Vielen Dank!

  6. hinterwald schreibt:

    ich denke, diese art von „berichterstattung“, die ja in der regel „früher“ von der sog. boulevardpresse bedient wurde, dient einzig dazu, den leuten zu sagen: „du bist noch mal davon gekommen, es hat einen anderen erwischt …“. gerade in deutschland befürchte ich, daß es haargenau darum geht, dem zuschauer zu vermitteln, wie gut er es doch hier hat und daß er es im grunde vermeiden sollten, irgendwelche grenzen zu überschreiten, weil „da draussen“ immer mal was passiert. was einem schon alleine deshalb nicht zustößt, weil man das alles gemütlich vom wohnzimmersessel beobachten kann.

    ich find’s einfach nur widerlich, deshalb gucke ich keine tv-nachrichten und ziehe das radio vor.

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